Interview mit Michael Hager
Michael Hager aus Neusäß kennt die EU wie kein anderer. Seit über 25 Jahren lebt und arbeitet er in Brüssel. Seit 2019 ist er Kabinettschef des leitenden Vize-Präsidenten der Kommission, Valdis Dombrovskis. Am 12. September 2025 hat Hager erstmalig an einem EU-Praxis-Check des Beauftragten für Bürokratieabbau der Bayerischen Staatsregierung teilgenommen. Thema war die EU-Wiederherstellungs-VO.

Wie kann man beim Thema Bürokratieabbau auf EU-Ebene „vor die Lage kommen“?
Seit Beginn des neuen Mandats Ende 2024 hat die Europäische Kommission unter Kommissar Valdis Dombrovskis beim Bürokratieabbau, oft bezeichnet als „Simplification Agenda“, ein beachtlich hohes Tempo vorgelegt. Innerhalb von nur zehn Monaten wurden sechs sogenannte Omnibus-Pakete beschlossen, das gab es noch nie zuvor.
Jedes dieser Pakete enthält konkrete Vereinfachungen und Anpassungen bestehender EU-Regeln und bringt konkrete Kosteneinsparungen für Unternehmen: Nachhaltigkeit wird stärker mit Wettbewerbsfähigkeit verknüpft, in der Verteidigungsindustrie wird Innovation beschleunigt und kleinere Unternehmen werden entlastet. Weitere ehrgeizige Vorschläge folgen demnächst.
Das Ziel ist klar: Weniger Berichtspflichten, mehr Raum für Wachstum. Wir wollen den Verwaltungsaufwand für Unternehmen bis 2029 um mindestens 25 % senken, für kleine und mittlere Betriebe sogar um 35 %. Das entspricht einer Entlastung von fast 38 Milliarden Euro.
Dabei geht es aber nicht um Deregulierung, sondern um klügere, einfachere Regeln, die in der Praxis funktionieren. Der Bürokratieabbau wird so zu einem Instrument, das Wettbewerbsfähigkeit stärkt, ohne Umwelt- oder Sozialstandards zu gefährden.
Worin liegen Ihrer Meinung nach die größten Unterschiede zwischen einem Reality Check der EU und einem Praxis-Check des Beauftragten für Bürokratieabbau Walter Nussel, MdL?
Sowohl der Praxis-Check als auch der EU-Reality Check beruhen auf demselben Gedanken: Gute Regulierung entsteht nur, wenn sie sich an der Realität orientiert. Sie sollen dafür sorgen, dass Regeln verständlich und umsetzbar bleiben.
In beiden Fällen werden Betroffene (Unternehmen, Verwaltungen, Verbände) aktiv einbezogen, um Rückmeldungen aus erster Hand zu erhalten. Noch wichtiger: beide Formate stehen für einen neuen Stil der Politikgestaltung, der stärker auf Dialog, Wirkung und Alltagstauglichkeit setzt.
Technisch gesehen ist der Reality Check als dynamisches Werkzeug gedacht. Er begleitet die Umsetzung europäischer Regeln dauerhaft und prüft EU-Regelwerke systematisch auf Wirksamkeit, Kohärenz und Angemessenheit. Grundlage sind dabei Analysen, Folgenabschätzungen und öffentliche Konsultationen, um festzustellen, wo Vorschriften zu komplex, überschneidend oder ineffizient sind.
Der Praxis-Check des Beauftragten für Bürokratieabbau geht sogar einen Schritt weiter: Er überprüft Regelungen direkt in der Anwendung, häufig vor Ort, gemeinsam mit den betroffenen Akteuren. Beide Verfahren ergänzen sich allgemein ziemlich gut. Während der Reality Check die systematische Perspektive bietet, liefert der Praxis-Check die konkrete Erfahrung aus der „realen Welt“.
Welchen Zeitpunkt im EU-Gesetzgebungsverfahren erachten Sie für geeignet, um die Expertise aus der Praxis nachhaltig einzuholen?
Vereinfachung beginnt in der Entwurfsphase, sie lässt sich nicht nachträglich anhängen. Bereits in der Vorbereitungsphase, wenn die Kommission erste Folgenabschätzungen erarbeitet, ist der richtige Moment, um Expertise aus Wirtschaft, Verbänden und Verwaltung einzubinden. In dieser Phase lassen sich mögliche Umsetzungsprobleme, Kosten oder Zielkonflikte erkennen, bevor sie in Rechtsvorschriften verankert werden.
Wichtig ist aber auch eine zweite Rückkopplung, sobald Rat, Parlament und Kommission im Trilog verhandeln, damit Änderungen weiterhin umsetzbar bleiben. Entscheidend ist, dass dieser Austausch dauerhaft organisiert wird, nicht nur punktuell. So entsteht Regulierung, die politisch sinnvoll und in der Praxis tragfähig ist.
Welches Fazit ziehen Sie nach Ihrer ersten Teilnahme aus dem EU-Praxis-Check zur Wiederherstellungs-VO?
Bayern hat mit dem EU-Praxis-Check ein tolles Modell geschaffen. Es war für mich interessant und anregend, die Diskussionen zu verfolgen. Dialog und Realitätssinn sind zentrale Voraussetzungen für gute Regulierung, dadurch lassen sich Zielkonflikte frühzeitig vermeiden, dank engem kontinuierlichem Austausch.
Das Format ermöglicht es, europäische Regelungen aus der Sicht der Anwenderinnen und Anwender zu betrachten und auf die Implementierbarkeit abzuklopfen. Der Praxis-Check liefert konkrete Beispiele aus dem Alltag. Solche praktischen Erfahrungen und robusten Rückmeldungen sind für die EU immer wertvoll, da sie konkrete Anhaltspunkte für Verbesserungen liefern.
Können Sie uns erklären, was man unter einem EU-Omnibus versteht?
Ein EU-Omnibus ist im Grunde ein Sammelgesetz, mit dem mehrere bestehende EU-Vorschriften gleichzeitig angepasst oder vereinfacht werden. Statt jede Verordnung einzeln zu ändern, werden ähnliche Regelungen in einem Paket überarbeitet. Das Ziel ist, Zeit zu sparen, Widersprüche zu verhindern und für einheitliche Standards zu sorgen.
Die Omnibusse sind das zentrale Werkzeug, um die 25 % bzw. 35 %-Entlastungsziele bis 2029 tatsächlich zu erreichen. Beispielsweise haben wir im ersten Omnibus-Paket Anfang des Jahres die Nachhaltigkeitsberichterstattung und die Sorgfaltspflichten für Unternehmen konkret vereinfacht, indem Fristen verlängert und Pflichten für kleinere Betriebe reduziert wurden.
Wie bereits gesagt, Vereinfachung bedeutet nicht Deregulierung. Es geht darum, die führende Rolle der EU für Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung zu bewahren, zugleich mit Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen und Wachstum unserer Volkswirtschaften in Einklang zu bringen.
Nachdem in der Zwischenzeit auf EU-Ebene eine gute Hand voll Omnibusse losgefahren ist: Welches Zwischenfazit ziehen Sie und was sind aus Ihrer Sicht die Vor- aber auch die Nachteile eines solchen Verfahrens?
Mit den Omnibussen zeigt die Kommission, dass sie es mit der Simplifizierung ernst meint. Es bedarf dazu des politischen Willens, aber auch des Inputs von Seiten der Unternehmensseite. Entscheidend ist, was am Ende an Entlastung bei den Unternehmen ankommt. Denn nur so wird die Frustration sinken. Genau darin liegt die Stärke einer lernenden Demokratie: Wir passen uns an, ziehen Lehren aus der Praxis und balancieren Prioritäten neu aus.
Die Wiederherstellungsverordnung zeigt, dass ambitionierte Umweltziele mit wirtschaftlicher Realität abgestimmt werden müssen. Im Dialog zwischen Kommission, Parlament und Mitgliedstaaten stellen wir sicher, dass Vereinfachung durch Kompromisse möglich wird, ohne die politischen Ziele aus den Augen zu verlieren.
Der Bericht von Mario Draghi hat hier die Richtung gewiesen: weniger Komplexität, mehr Produktivität, stärkere Investitionen. Die Breite der bisher vorgeschlagenen Maßnahmen zeigt, dass alle Mitgliedstaaten diesen Kurs mittragen: Vereinfachung ist einen festen Bestandteil europäischer Politik geworden.
Welche zweite Omnibusflotte steht derzeit in den Startlöchern?
Nach sechs bereits verabschiedeten Omnibus-Paketen arbeiten wir tatsächlich an einer Ausweitung der Omnibus-Flotte, die in den kommenden Monaten folgen soll, so etwa ein Digital-Omnibus, ein Umwelt-Omnibus und ein Automobil-Omnibus noch vor Jahresende. Wie Kommissar Dombrovskis betont hat, wurden bislang Erleichterungen im Umfang von über acht Milliarden Euro vorgelegt. Und wir werden den Weg fortsetzen: Es handelt sich nicht um eine einmalige Übung, sondern um einen Kulturwandel.

