EU-Gesundheitspolitik gefährdet Arzneimittelversorgung
Beauftragter für Bürokratieabbau fordert Erleichterungen im Gesundheitssektor
21.02.2025

Bei seinem Brüsselbesuch im Februar ging es Walter Nussel, MdL, Beauftragter für Bürokratieabbau und Vorsitzender des Bayerischen Normenkontrollrats, in seinen Gesprächen mit Vertretern der EU-Kommission insbesondere um die bürokratischen Belastungen im Gesundheitssektor. Begleitet wurde Nussel von Dr. Rainer Hutka, Amtschef des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege.
MedTech Europe und MDR
So stand die europäische Medizinprodukte-Verordnung (MDR) im Fokus des Auftaktgesprächs mit Oliver Bisazza (CEO MedTech Europe) und Merlin Rietschel (Senior Manager Industrial Policies MedTech Europe). MedTech Europe ist der europäische Dachverband der Medizintechnikbranche, dem u.a. auch die deutschen Verbände BVMed und SPECTARIS angehören.
Alle Unternehmen, die Medizinprodukte in der EU vertreiben wollen, müssen diese Produkte zuvor gemäß der Bestimmungen der MDR (Medical Device Regulation; EU-Medizinprodukteverordnung) zertifizieren lassen.
Aus Sicht der MedTech Europe führen in erster Linie die langen Zertifizierungsverfahren für die Marktzulassung von Medizinprodukten, die mangelnde Harmonisierung der Benannten Stellen (staatlich benannte und überwachte Organisationen) in Europa, die mangelnde Transparenz in der Kostenfestsetzung der Benannten Stellen für einen Zertifizierungsprozess sowie der hohe Dokumentationsaufwand zum Verlust an Wettbewerbsfähigkeit. Viele europäische Unternehmen verlagern ihre Innovationen in die USA, wo der Marktzugang schneller und einfacher ist.
MedTech Europe fordert eine Vereinheitlichung der Benannten Stellen bei einer zentralen europäischen Behörde. Alternativ müssten die Benannten Stellen zumindest europaweit harmonisiert werden, damit überall die gleichen Prüffristen sowie der gleiche Kostenrahmen für die Zertifizierung gelten.
Die genannten Probleme wird Nussel beim MDR-Praxis-Check am 11. April 2025 in einem mittelfränkischen KMU mit allen wichtigen Stakeholdern (EU-Kommission, Bundes- und Landesministerien, Unternehmen, Verbände, Ärzte, IHK, etc.) diskutieren und gemeinsam Lösungsvorschläge erarbeiten.
Gespräch mit Vertretern der DG SANTE
Rainer Becker (DG SANTE, Direktor Abteilung Medizinische Produkte und Innovation) und Peter Bischoff-Everding (DG SANTE, Referat Medizinprodukte) skizzierten im anschließenden Fachgespräch den geplanten Reformprozess der MDR.
Kurzfristig sind entlastende Maßnahmen ohne Änderung der MDR geplant. Im Rahmen der Evaluierung der MDR muss sichergestellt sein, dass die Reduzierung der Standards die Patientensicherheit nicht gefährden. Überbordende Regelungen durch das EU-Parlament, wie sie es im Ausgangsgesetzgebungsverfahren zur MDR gegeben hat, sollen vermieden werden. Nach der Evaluierung werden die Gesetzesänderungen vorbereitet. Die letzten Übergangsfristen zur MDR laufen im Jahr 2027 aus. Bis zu diesem Zeitpunkt muss die MDR überarbeitet sein. Geplant ist ein Gesetzgebungsvorschlag zur Änderung der MDR im Jahr 2026.
Nussel wird die Ergebnisse des MDR-Praxis-Checks aktiv in die Evaluierung der MDR einbringen, damit praxisnahe Lösungen für KMUs der Medizintechnik in der Gesetzgebung berücksichtigt werden.
Mehr Digitalisierung schafft weniger Bürokratie
Im Gespräch mit Silke Dalton (Expertin im Kabinett von Digitalkommissarin Henna Virkkunen) betonte Nussel die Notwendigkeit, die Omnibus-Gesetzgebung der EU weiter zu forcieren und gleichzeitig einheitliche digitale Infrastrukturen zu etablieren, um im Bereich der Digitalisierung überbordende Bürokratie abzubauen.
Der Begriff „Omnibus-Verordnung“ beschreibt Rechtsakte, die mehrere bestehende Verordnungen oder Richtlinien gleichzeitig ändern oder aktualisieren. Aktuell plant die Europäische Kommission eine Omnibus-Verordnung zur Vereinfachung von ESG-Berichtspflichten. Diese soll bestehende und künftige Verordnungen und Richtlinien bündeln und vereinfachen, insbesondere im Hinblick auf die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) und die Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD). Dabei steht nicht nur die Nachhaltigkeit im Fokus, sondern auch die Reduzierung von Bürokratie für Unternehmen.
Wachstumsmotor Forschung und Innovation
Bei der Abendveranstaltung „Wachstumsmotor Forschung und Innovation – wie wir mit marktwirtschaftlichen Lösungen in Europa den Wohlstand sichern“ mit dem Europäischen Steuerzahlerbund (TAE) und Eric Beißwenger, MdL, Staatsminister für Europangelegenheiten und Internationales in Bayern, ging es um Kernfragen zur Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft in Europa: Wie können die Rahmenbedingungen für technische Innovationen verbessert und Start-ups in Europa gehalten werden?
In seinem Statement postulierte Nussel: „Ein überregulierter Staat hemmt Innovation, unternehmerischen Mut und die Bereitschaft, Risiken einzugehen. Eigenständiges Denken wird durch kleinteilige Verordnungen immer weiter eingeschränkt. Nur wenn wir das Vertrauen in die Eigenverantwortlichkeit der Menschen stärken und Mut zur Vereinfachung zeigen, können wir unser Land für die Herausforderungen der Zukunft fit machen.“
Austausch mit den Spiegelreferenten der bayerischen Vertretung
Am nächsten Tag stellte Nussel den Spiegelreferenten der Vertretung des Freistaates Bayern bei der Europäischen Union die Organisation und Arbeitsweise der Geschäftsstelle Bürokratieabbau vor und erläuterte den von ihm in Bayern initiierten Praxis-Check.
Mittelpunkt der Diskussion zum Thema „EU-Gesetzgebung: Mindeststandard-Vorgaben bei Statistiken“ war der bayerische Bundesratsantrag „Überbordende Statistiklast abbauen – Unternehmen spürbar entlasten“ vom 31. Juli 2024. Dieser Antrag legt anschaulich dar, in welchen Bereichen bundesrechtliche Statistikpflichten über das europäische Mindestmaß hinausgehen.
In diesem Zusammenhang betonte der Beauftragte, dass er sich für ein Anti-Gold-Plating-Gesetz einsetzt, das sicherstellt, dass nationale Zusatzanforderungen, die über die EU-Vorgaben hinausgehen, vermieden oder – falls bereits geschehen – zurückgefahren werden.
Um mögliche bürokratische Hindernisse frühzeitig zu erkennen und gegensteuern zu können, möchte Nussel den Austausch zwischen den Spiegelreferenten in Brüssel, Berlin und der Geschäftsstelle Bürokratieabbau weiter intensivieren.
Roundtable Pharmaindustrie in Europa
Beim Roundtable zur „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Pharmaindustrie in Europa“ zeigte sich, dass die deutsche Pharmaindustrie derzeit mit großer Sorge auf die Neuausrichtung der europäischen Kommunalabwasserrichtlinie blickt. Eine wesentliche Verschärfung der bisherigen Regelung stellt die Einführung einer vierten Reinigungsstufe dar, um Spurenstoffe im Abwasser zu reduzieren.
Der größte Anteil an Mikroschadstoffen im Abwasser ist auf Arzneimittel und Kosmetika zurückzuführen. Daher sollen deren Hersteller im Rahmen einer erweiterten Herstellerverantwortung zukünftig an den Kosten der Einführung der vierten Reinigungsstufe und damit an der Beseitigung dieser Stoffe zu mindestens 80 Prozent beteiligt werden. Die Richtlinie ist innerhalb von 30 Monaten in nationales Recht umzusetzen. Für die notwendigen Investitionen werden ausreichende Übergangsfristen vorgesehen, die teilweise bis ins Jahr 2045 reichen.
Insbesondere Hersteller von Generika sehen ihr Produktportfolio durch die Neuausrichtung der Richtlinie gefährdet, da diese Arzneimittel ohnehin nur geringe Gewinnmargen erzielen. Aus Sicht der Pharmaindustrie gefährdet diese Richtlinie die Arzneimittelsicherheit in Europa, da mangels Rentabilität generische Arzneimittel aus der europäischen Produktion verschwinden werden.
„Die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung ist essenziell für ein funktionierendes Gemeinwesen. Die Versorgungssicherheit mit Arzneimitteln darf durch starre Auflagen nicht gefährdet werden“, so Nussel in seinem Impulsvortrag.
Daiichi Sankyo Deutschland
Nachfolgend zum Roundtable fand ein Gespräch mit Dr. Jonas Scherhaufer (Director European Govermental Affairs / Strategic Partnership) von Daiichi Sankyo Deutschland statt, einem japanischen Pharmaunternehmen, dessen europäischer Hauptsitz in München liegt und das seinen Unternehmensstandort in Pfaffenhofen über die nächsten fünf Jahre mit 1 Mrd. € ausbauen möchte.
Auch Daiichi Sankyo lehnt das mit der neuen europäischen Kommunalabwasserrichtlinie eingeführte Verursacherprinzip ab, da hierdurch nur europäische Produzenten belastet werden. Arzneimittel würden jedoch weltweit gehandelt und bei der Abwasserreinigung könne nicht unterschieden werden, ob die im Abwasser befindlichen Schadstoffe aus europäischer oder außereuropäischer Produktion stammen. Weiterhin erachtet Daiichi Sankyo Deutschland es als kritisch, dass die EU-Kommission das Verfahren über die Festlegung der neuen Grenzwerte im Rahmen der europäischen Kommunalabwasserrichtlinie, insbesondere zur vierten Reinigungsstufe, nicht offenlegt, sodass keine Planungssicherheit für die Pharmaindustrie gegeben sei.
Insoweit wird von Daiichi Sankyo die Aussage, die bereits am Roundtable von Vertretern der Pharmaindustrie getätigt wurde, bestätigt: Aufgrund der europäischen Kommunalabwasserrichtlinie ist die Arzneimittelsicherheit in Europa ist gefährdet.
Bürokratische Erleichterungen bei der RED III
Im Mittelpunkt des Gesprächs mit Edith Hofer (DG ENER, stellv. Referatsleiterin, Referat Dekarbonisierung und Nachhaltigkeit von Energiequellen) standen die Erneuerbare-Energien Richtlinie RED III sowie die Ergebnisse des Praxis-Checks des Beauftragten für Bürokratieabbau zur Nachhaltigkeitszertifizierung am 25. Juli 2024.
Nussel brachte u.a. folgende Möglichkeiten zur Vereinfachung der RED III durch die EU vor: die Vereinfachung der Zertifizierung und der Nutzung der Unionsdatenbank verbunden mit einem gesicherten Übergangszeitraum sowie die Umstellung der Bagatellgrenzen auf Nutzwärme- oder Stromproduktion. Zudem sollten seitens der EU zwingend Witness-Audits eingeführt werden, damit die Erteilung von Zertifikaten nur mit der Möglichkeit der Überprüfung der Zertifikate mittels Vor-Ort-Kontrollen möglich ist.
EU-Kompass und Reality-Checks
Abschluss des Brüsselbesuchs bildete das Gespräch mit Michael Hager (Kabinettschef des Kommissars Valdis Dombrovskis – Economy and Productivity, Implementation and Simplification). Beide bewerten den EU-Kompass für Wettbewerbsfähigkeit vom 29. Januar 2025 als zukunftsweisend, da dieser hinsichtlich des Abbaus bürokratischer Hürden auf EU-Ebene einen Kulturwandel einläutet. Auch die Einführung von „reality checks“ auf EU-Ebene, die dem bayerischen Modell des Praxis-Checks folgen, ist für Nussel und Hager ein vielversprechender Schritt hin zu weniger Bürokratie.
Mit Blick auf die Neuausrichtung der europäischen Kommunalabwasserrichtlinie will sich Nussel für eine unbürokratische Umsetzung auf Bundesebene ohne Gold-Plating einsetzen, damit die mit dieser Richtlinie verbundenen Belastungen für die Pharmaindustrie nicht noch verstärkt werden. Zudem sprach sich Nussel gegenüber Hager für eine generelle Überarbeitung der europäischen Kommunalabwasserrichtlinie mit geringeren Richtwerten für die vierte Reinigungsstufe aus.
Bayerische Vertretung in Brüssel – wichtige Schnittstelle zur EU
„Als Beauftragter für Bürokratieabbau der Bayerischen Staatsregierung und Vorsitzender des Bayerischen Normenkontrollrats werde ich meine Ziele, auch auf EU-Ebene, weiter konsequent verfolgen. Die Bayerische Vertretung in Brüssel ist für mich eine wichtige Schnittstelle zu EU-Institutionen, um frühzeitig bürokratische Hürden zu erkennen und rechtzeitig Einfluss zu nehmen“, so Nussels Fazit.